Ausstellung "P2V20"

Redemanuskript Eröffnungsrede
13.2.2015

 

P2V20 – Fotografie von Oliver Herrmann

 

Das Spiel mit der Wirklichkeit beginnt: Entsorgte Massenware zu futuristischer Höhlenkunst? Eine Fotografie, die den weggeworfenen, gebrauchten Sperrmüllmöbelteilen neuen Glanz, ja faszinierende Schönheit verleiht. Eine elegante Konfrontation mit dem vielleicht uneingestandenen, beunruhigenden Bewusstsein, selbst Teil jener habenorientierten Gesellschaft zu sein. Ein ästhetisches Konzept, welches eine charmante Umwertung der Werte schafft oder die Kunstgeschichte vom Glanz und Elend der Hütte.

Der simple Titel der Ausstellung "P2V20" stellt eine Industriekennzeichnung für Spanplatten im Möbelbau dar. Dieses und ihm ähnliches Material thematisiert Oliver Herrmann in der Architektur des Raumes als Wand füllende Fotografie und mit größeren und kleinformatigen Arbeiten.

 

So what? Billige Wegwerfgesellschaft unter dem schimmernden Mantel teurer Hochglanzkunst. Individuelle banale Spuren im Kontext von Schönheit, Vergänglichkeit und Ewigkeit im Bilde. Diese neuartige Kreuzung von oben und unten, arm und reich, ewig und flüchtig, wirklich und unwirklich, schön und hässlich, alt und neu scheint komplex und einfach zugleich. Das Geheimnis liegt hinter den Dingen, in der Ästhetik und in der Haltung gegenüber eben diesen menschlichen Zuschreibungen an Werten. Wie stellt sich die Komposition dar, die die scheinbare Einfachheit erzeugt?

 

Die Wahrnehmung der bitterschönen Wirklichkeit wird erst erzeugt, indem die Gegenstände gesehen, mitgenommen, aufgebaut, extrem vergrößert, minimal umgestellt und einzeln hervorgehoben werden. Immer wieder aufs Neue bis aus ihnen reinste Kunstextrakte hervorgehen. Die fein abgestimmte Komposition des Bildes im Raum wie des Raumes in den Bildern im Kopf entstehen in vielen kleinen Schritten. Nicht nur von der Straße bis zur Galerie. Vom Auge zur Linse. Sondern auch vom Herzen zur Haltung. Glanz und Elend im Entdecken von Sperrmüllküchenmöbel zu zeitgenössischen Kunsthöhlen. Ein Kunstgriff, ein Blick, ein Klick – so minimal futuristisch kann (Kunst-)Geschichte ins Auge fallen.

 

So weit der Einführungstext auf der Karte und im Netz. Obwohl die Fotografie so menschenleer, so eigentlich undramatisch daherkommt, erscheint sie mir so anregend, dass ich große Mühe habe, mich kurz zu fassen. Also versuche ich die Datenmenge etwas zu komprimieren, was nicht einfach ist, wenn wir uns allein das hier hängende Schwergewicht (die Fototapete) anschauen. Mit einer normalen, häuslichen Internetverbindung dauerte der Bildaufbau ca. 8 Stunden. Warum? Weil darin ca. 100 verschiedene Bilder in verschiedenen Perspektiven miteinander verwoben sind.

 

Die amerikanische Kulturkritikerin Susan Sontag äußert in ihren Essays über Fotografie: Die spätere Industrialisierung der Fotografie verwirklicht nur das Versprechen, das diese von Anfang an gab: jede Erfahrung durch die Übersetzung in Bilder zu demokratisieren. Welche Arten von Erfahrung demokratisiert Oliver Herrmann? Er inszeniert gefundene Gegenstände mit Gebrauchsspuren in einer unwirklichen Größenordnung und bezieht perspektivisch die Raumsituation mit ein. Der eigentliche Mensch, der mit diesen Sperrmüllresten und Spanplattenstücken hauste, ist dabei nicht abgebildet, aber spürbar, aufspürbar in seinen Hinterlassenschaften. Der Satz von John Berger Bilder werden zuerst hergestellt, um die Erscheinung von etwas Abwesenden zu beschwören, trifft hier zu. Dahinter ist auch ein Mensch, der isst, der täglich zu Messer und Gabeln greift, ohne jedoch dem ureigensten Gehäuse seiner Instrumente, also dem Besteckkasten, die ihm wohl gebührende Beachtung geschenkt zu haben. Dieses Spiel mit der Präsenz von Abwesenheit wirkt sehr anregend auf unsere Vorstellungen über Menschsein, Fotografie und Wirklichkeit. Versuchen wir uns den Kunststücken mithilfe verschiedener Ebenen anzunähern. Auf der Stilebene: mittels hochaufwändig gerenderter Fotografie werden die Gegenstände aus mehreren Perspektiven gezeigt, so dass sowohl eine überdimensionierte Nahsicht als auch durch perspektivische Einbettung, eine Fernsicht, eine räumliche Dimension, Schärfe und Unschärfe entstehen. Die gezeigten Stücke beziehen sich auch auf etwas Abwesendes. In der ZEIT las ich zufällig über den Kunsthistoriker Panofsky, der die Stilebene von Raffael als eher zentristischer Vorgehensweise mit Michelangelo verglich als einer Art abtragender Schichtung, wobei ich irgendwie meine diese zwei Genie-Prinzipien bei Oliver wiederzuerkennen, in der Autonomie und Relativität der Gegenstände im Raum.

Dann die Bedeutungsebene: mit Gebrauchsspuren versehene wertlose, reproduzierte Fundstücke werden zur fotogenen Hochkultur, für die Linse aufwändigst inszeniert, als Bild reproduziert, das über den Augenblick hinaus Vergänglichkeit, Sterblichkeit und gleichzeitig Ewigkeit zeigt, das dem Wertlosen Wert verleiht. Die Metaebene: über die Wirklichkeit von Bildern sprechen, über Reproduktionsprozesse, über die Macht und Symbolkraft von Bildern.

 

Susan Sontag sagt, Fotografie kann man als engbezogenes Spiegelbild begreifen. Wir könnten hier von Spiegelbildern sprechen, die unsere Wahrnehmung enorm weiten, unsere Bilder- und Wegwerfflut sichtbar machen.

Fotografie in Form von Massenkunst ist vornehmlich ein gesellschaftlicher Ritus, ein Abwehrmittel gegen Ängste und ein Instrument der Macht. Der heutige Hype von Selfies könnte als Abwehrmittel gegen Ängste dienen. Betrachten wir die gegenteilige Motivwahl von Oliver Herrmann, so stellen wir fest, dass er massenhaft Vorkommendes verwendet, welches aber entsorgt, aus dem Blick genommen werden soll. Er inszeniert im Grunde völlig wertlose Gegenstände oder rückseitige Ansichten derselben. Dazu in einer ungeheuerlichen Schärfe, die mit Unschärfe spielt. Alles in allem das Gegenteil eines schnellen Selfies. Er verwandelt unsere Unaufmerksamkeit gegenüber alltäglich benützten Dingen, bemächtigt sich unserer banalen Spuren von Vergänglichkeit und rahmt sie in ein neues futuristisches Arrangement von Schönheit, Wahrheit, Glanz und Größe, Ästhetik.

 

Wie Fotografie den Menschen den imaginären Besitz einer Vergangenheit vermittelt, die unwirklich ist, so helfen sie ihm auch, Besitz von einer Umwelt zu ergreifen, in der er sich unsicher fühlt. Die Selfie-Bilderflut entspringt vielleicht aus dem zunehmend vergangenheitslosen Massendasein in einer immer schneller rasenden Zeit. Oliver Herrmanns Inszenierung vermittelt Zukunft. Wir blicken auf die Kehrseite der Vergangenheit, begegnen ihr aber auf eine im Grunde viel schönere Weise, auf eine die sie sein, werden könnte. Indem eine irritierend harmonisch abgestufte Farbigkeit und geordnete Bildkomposition die Materialität der Gegenstände teilweise auflöst, irgendwie auch gotisch und eine architektonische Ansicht freigibt so schlicht romanisch, wird eine abwesende Vergangenheit inszeniert, so unwirklich wie wirklich im Bilde. Das glanzvolle Arrangement vermittelt uns Sicherheit, überwältigt mehr als die Realität selbst es vermag. Weil auch die Dinge wirklicher scheinen, weil präziser im Bilde als wir sie in Wirklichkeit wahrnehmen.

 

Als Mittel zur Beglaubigung von Erfahrung verwandt, bedeutet das Fotografieren aber auch eine Form der Verweigerung von Erfahrung, indem diese auf die Suche nach fotogenen Gegenständen beschränkt wird, indem man Erfahrung in ein Abbild, ein Souvenir, verwandt. Mit Beglaubigung und Verweigerung von Erfahrung konfrontiert der Künstler den Betrachter. Herrmanns Fotografie stellt uns die permanente Reproduktion unserer Lebenswirklichkeiten vor Augen. Originale tauchen gar nicht auf. Die gepressten Spanplatten als Holzimitate, die Versionen des Laminatverschnitts mit fotografierten Holzansichten, die Einzelaufnahme, das digitale Original wird mit weiteren Größen verrechnet und schließlich als Fototapete reproduziert. Diese Bilder von Oberflächen, Flächen, Schnitten verweigern und zeigen diese reproduzierten Erfahrungen. So beglaubigt der Besteckkasten die Lebenswirklichkeit von Generationen und mutiert gleichzeitig zum Symbol. Elend und Glanz der Hütte scheint durch in den Gebrauchsspuren und in diesem oberflächlichen Schimmern der ausgedienten, ausrangierten Sperrmüllmöbel. Und weil eine totale Exponiertheit der Gegenstände nicht stattfindet, wird oder ist hier nichts Souvenir. Es wird nicht ausgeklammert, gepost, sondern Erfahrung wird integriert, eingebettet in eine mögliche „vergängliche“ Gegenwart und damit Zukunft, in ein Fließen der Zeit.

 

Jeder, der in einer Industriegesellschaft lebt, wird allmählich dazu gezwungen mit der Vergangenheit zu brechen.... Fotografieren bedeutet teilnehmen an der Sterblichkeit, Verletzlichkeit und Wandelbarkeit anderer Menschen (oder Dinge). Die minimalen Gebrauchsspuren verweisen auf die Brüche und die Sterblichkeit. Aber die fast abstrakte Darbietung der Gegenstände in dieser Architektur befreit vom geschichtlichen Zwang des Untergangs, bietet Wandelbarkeit als reale Erfahrung an, erlebbar in diesem Raum. Selbst die Maße der Fenstertürenfront scheinen sich in den Maßen des Besteckkasten zu spiegeln. Dadurch spüren wir eine größere Harmonie, die scharfe, klare Trennung von Innen und Außen wird aufgehoben. Damit sind wir auch bei der Umwertung der Werte. Die Kategorien von Schönheit und Hässlichkeit scheinen befreit, wandelbar, ewig gestaltbar im künstlerischen Sinne und wir dürfen in einen neuen zeitlichen Kreislauf eintreten.

 

Noch mal Susan Sontag: Die schmerzliche Sehnsucht nach Schönheit, der Wunsch, nicht mehr unter der Oberfläche sondieren zu müssen, das Verlangen, sich mit der Welt in ihrer Gesamtheit wiederzuversöhnen und sie zu feiern – all diese sinnlichen Empfindungen kommen in dem Vergnügen, das wir an Fotos finden, zum Ausdruck.

Die Welt in ihrer Gesamtheit als auch das Vergnügen an dem Spiel mit der Wirklichkeit treffen hier zusammen. Die Kamera atomisiert die Realität. ... Die letzte Weisheit über die Fotografie: Hier ist die Oberfläche. Nun denke darüber nach – oder besser: erfühle, erkenne intuitiv- , was darunter ist, wie eine Realität beschaffen sein muß, die so aussieht. Unter der gezeigten Oberfläche schlummert, leuchtet vielleicht ein Kunstschaffen, welches bis in die Höhlenkunst der Steinzeitmenschen zurückreichen könnte.

 

Alles wegen dem diesem kleinen Besteckkasten.

Der Sozialwissenschaftler Jost Herbig geht bei der Untersuchung zur Evolution des Menschlichen in seinem Buch „Im Anfang war das Wort“, der Frage nach, warum angeblich nutzlose Kunst zur Evolution mehr beiträgt als erfolgsorientierte wirtschaftliche Arbeit. Er fragt: Was hat der Daseinskampf mit dem Anfertigen von Kunstwerken zu tun? Herbig argumentiert streng gegen den Darwinschen Daseinskampf. Er bemüht die sozialwissenschaftliche Interpretation, erst soziales Verhalten und Anpassung an die Natur ermögliche Vermehrung. Voraussetzungen für das Überleben der Menschheit sind kulturelle Normen, an denen sich das Verhalten der Individuen orientiert, sie erlauben grundsätzlich neue Formen der Anpassung. Das Orchester unserer Gefühle ist Teil eines stammesgeschichtlichen Erbes ... Gefühle tragen anscheinend zu den meisten „höheren“ geistigen Leistungen des Menschen bei, ohne sie wären wir nicht nur „seelenlos“, wir wären antriebslose Roboter. Bei den Neandertalern (130 000 bis 30 000 v.Chr.) wurden wohl besondere Entdeckungen gemacht: Der Höhlenboden, auf dem faulende Essensreste bis dahin eine Brutstätte für Ungeziefer gewesen waren, wurde nun systematisch von Mahlzeiten gesäubert. Diese Höhlenbewohner begannen, glänzende Mineralien, auffällige versteinerte Schnecken und Korallen, an denen ihre Vorfahren achtlos vorbeigegangen waren, aufzusammeln und „nach Hause“ zu tragen.

 

Also sie wären die ersten Vorgänger, die scheinbar nutzlose Dinge gesammelt hätten, die wir als Kunst bezeichnen würden. Der Gelehrte André Leroi-Gourhans erkennt in den Höhlen von Lascaux/Südfrankreich das Engagement einer Bevölkerung einige Begabte aus ihrer Mitte mit allem zum Leben und zur Arbeit Nötigem versehen zu haben. Denn seit der Entdeckung der Eiszeitkunst hat man über ihre Bedeutung gerätselt: etwa l’art pour l’art - Herbig sieht die Erklärung als unzutreffend, wenn erst materielle Grundbedürfnisse befriedigt wären, sich dann schöpferisch zu verwirklichen. Diese Interpretation entspreche dem Intellektuellen des 20.Jahrhunderts. Herbig möchte zeigen, dass Kunst eben nicht wesentliches Element ihrer auf wirtschaftlichen Erfolg orientierte Arbeit war, dass Herstellung von Kunst Spiel und Anfertigung von Werkzeugen für die Jagd Arbeit sei.

 

Kunst war sozusagen ein sozialer Akt, denn erst soziales Verhalten brachte die Spezies weiter. Dies erkennt man an den gefundenen Essensresten in den Höhlen. Die Menschen, auch die Künstler in Lascaux beispielsweise ernährten sich hauptsächlich von Rentierfleisch, malten aber ganze Herden von Auerochsen, Pferden, Wisente, Hirsche und anderes an die Wände. Der Anthropologe Alexander Marshak entdeckte, dass sämtliche Kunstzeichnungen mit Gebrauchsspuren, Objekte mit Zeichnungen, Malereien überzogen waren. Eine Art die Gegenstände zu nutzen, bestand in der Verbindung eines ursprünglichen Bildes mit einer Bibliothek ergänzender Motive und Symbole. Der Brauch, Bilder durch symbolisches Markieren zu benutzen, dauerte 20 000 Jahre bis zum Ende der Steinzeit. Die Kunst der Eiszeitmenschen war daher nicht Selbstzweck. Es scheint, als hätten die Benutzer mit den Bildern und Objekten Kräfte in Verbindung gebracht, die durch Abtasten, Tragen oder Markieren aktiviert werden konnten. Vergleichbare magische Praktiken sind bei den letzten „Wilden“ unserer Zeit beobachtet worden und halten sich noch heute im Reliquienkult der katholischen Kirche. Selbst realistische Tierdarstellungen sind immer mehr als nur abgebildete Tiere. Sie enthalten über das Dargestellte hinausreichende symbolische Bedeutung. Die Zeichen und Figuren sind und waren demnach Träger symbolischer Bedeutung. Und welchem sozialen Zweck dienten jene Objekte? Mit dieser Frage schaut die Wissenschaft beispielsweise auf die Aborigines in Australien. Herbig sagt, nicht die magische Kontrolle von Naturphänomenen, sondern Vollzug der Schöpfungsordnung, war Zweck der zahlreichen Vermehrungsriten bei den Aborigines. Im Gegenzug zu unserer Religion, die jedem einzelnen Erlösung verspricht, sofern er nur ein gottgefälliges Leben führt, verlangten die Glaubensvorstellungen der Aborigines die Zusammenarbeit aller Klans. Die Vorstellung, darauf angewiesen zu sein, dass jeder Klan, gleichgültig ob Freund oder Feind, an dem immensen Gemeinschaftswerk arbeitete, schuf ein Bewusstsein der Gemeinsamkeit. Der Anthropologe Maddock schrieb, dass es in der Verantwortung der ausführenden Riten liegt, die natürlichen und sozialen Kreisläufe in Bewegung zu halten. Die Kosmogonie schließt nicht nur eine Theorie über den Ursprung der Welt mit ein, sondern auch des menschlichen Verhaltens. Hat also mehr mit platonischen Ideen hinter der Wirklichkeit als mit der Wirklichkeit selber zu tun.

 

So weitreichend sei jetzt dieser geistige Bogen gespannt.

Der Pfeil vielleicht zu rituell, kosmisch abgeschossen. Ob wir Menschen uns wieder als Teil einer kosmischen Ordnung wahrnehmen, wo Harmonie nur über die Integration von allem durch die Umschreibung möglich wird, hängt auch von unserem Blick ab. Eine ästhetische Erweiterung des Unschönen und Oberflächlichen erlaubt die Aufhebung des Blicks hinter die alten Kulissen. Diese Kunsthöhle, ein Ort der Kunstschaffenden und Vermittelnden in der Gemeinschaft, vielleicht ein sogenannter Off-space formt die Wahrnehmung über die Dinge und damit die Sehweise auf den eigenen Umgang mit den Dingen. Fotografie als magischer Ritus, die mögliche Wirklichkeit in der Wirklichkeit zu zeigen und in den Kreislauf zu bringen. Das macht die Betrachtung und den gemeinsamen Vollzug so spannend. Mehr als nur Theorie, menschliches Handeln über die Kunst, über eine erweiterte Symbolwelt zu schaffen.

 

Noch ein vorletztes. Über die Macht und Gewalt von Bildern ging es nicht nur neulich in Paris mit je suis Charlie Hebdo. Hanno Rautenberg in der ZEIT bemerkte auch, denn im Bild ist etwas Abwesendes anwesend. Sonst hätte ein Bild nicht diese Macht. Im Bild kommt dem Menschen etwas entgegen, das sehr fern liegen kann. So eine Bildmagie oder Repräsentanz im Bilderglauben gipfelte auch im Preußischen Landrecht von 1794 angewendet, das eine Bestrafung in effegie vorsah, also falls der Verurteilte entkommen war, wurde die Strafe an seinem Bildnis vollzogen.

 

Die Fotografie ist eine elegische Kunst, eine von Untergangsstimmung überschattete Kunst. Bei Herrmann zeigt sie sich von ihrer spielerischen Seite, zukunftsorientierter, zartgestimmt, fotogen, komplex, einfach schlicht und schön komponiert. Ein Hohelied auf den scharfen und schwebenden Blick.

Aber von meiner Seite sei jetzt fast genug gesprochen. Der Künstler hat noch viel mehr zu sagen, über seine Documenta-Entdeckung, das sogenannte Original oder wohin der Blick plötzlich fiel und begann zu entdecken? Dort im oberen Raum gilt es weitere Wirklichkeiten aufzuspüren. Diese Präsentation vollendet wohlmöglich Hermanns Werkreihe der Sperrmüllmöbel-Spanplatten und stellt den Höhepunkt dar. Mit älblerischen Tropfsteinhöhlen können wir in der Stadt nicht auftrumpfen, aber mit gerahmten Glanzsteinen der Fotografie. Eine kleine Edition ist auch dabei.

 

Vielen Dank für Ihre werte Aufmerksamkeit.

 

Literaturhinweise:

Susan Sontag, Über Fotografie (Essays), Frankfurt/Main 1991

John Berger u.a., Das Bild der Welt in der Bilderwelt, Hamburg 1988

Jost Herbig, Im Anfang war das Wort, Die Evolution des Menschlichen, München 1986

 

Ellen Rein, 2015